GWTF Jahrestagung 2020

Call for papers für die GWTF Jahrestagung 2020 am 19. & 20. November 2020 in München zum Thema "Die experimentelleKonstruktion der Wirklichkeit:Art, Facts,and Artefacts"

Zusammenfassung

Beschreibung

Um das Faktische ranken sich in jüngster Zeit neue Varianten. Die Rede von Arte-Fakten ist schon länger etabliert, die Rede vom Post-Faktischen ist hingegen jüngeren Datums. Dabei wird der Raum jenseits des Faktischen mit unterschiedlichen Kennzeichnungen und Motiven ausgeleuchtet. Ganz prominent etwa das Vorbringen von „Alternativen Fakten“, um –zumeist politisch motiviert –andere Deutungsmöglichkeiten dessen, was ist, Beachtung zu verschaffen und zu plausibilisieren. Hier wird der Blick auf die Arten und Weisen der Tatsachenfeststellung gelenkt und über die Rechtfertigbarkeit verschiedener Formen des Feststellens von Fakten debattiert. Von einer anderen Seite kommend, aber ebenso relevant, sind Debatten um das „Ende der Theorie“. Im Angesicht umfassender Datenverfügbarkeit wird vielfach proklamiert, dass Theorie nicht mehr erforderlich sei, denn man könne die Wirklichkeit direkt aus den Daten selbst extrahieren. Diese Lesart gewinnt ihre Plausibilität aus der schieren Verfügbarkeit von Daten. Beiden Fällen gemein ist jedoch, dass die Verfahren zur Feststellung des Faktischen verstärkt experimentelle Züge annehmen. Denn wie genau die Fakten hergestellt werden, bleibt nicht selten unklar. Probierendes, exploratives, reflexives und vorläufiges Feststellen des Faktischen kennzeichnen eine zunehmend experimentelle Konstruktion sozialer Wirklichkeiten, bei der zusätzlich unterschiedliche Formen des Experimentierens ausprobiert werden: Vom Aufbau differenzierter Testverfahren über situative Experimentalanordnungen bis hin zu künstlerischen Formen. Im Rahmen der Tagung wollen wir zwei miteinander verschränkten Dynamiken der Experimentalisierung des Faktischen nachgehen.

Zum einen der Digitalisierung und Verdatung, welche dazu führen, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten zunehmend durch digitale Informationsinfrastrukturen vermittelt und transformiert werden. Das Faktische ist somit nicht unmittelbar gegeben, sondern grundsätzlich technisch erzeugt. Es fällt hierbei auf, dass im Zuge von Digitalisierung und Verdatung wesentliche Komponenten der Erkenntnis von Wirklichkeit durch Wissenschaft praktisch relativiert werden, etwa die Bedeutung von Theorie. Bekannt ist auch, dass etwa in der Klimaforschung nicht gemessene Daten, sondern simulierte Daten die Grundlage für eine empirische Bestätigung von Aussagen bilden. Eine neue Qualität erhält diese Situation in der Gegenwart durch den Einsatz von KI, durch den neue Mensch-Technik Verhältnisse in der Produktion von Evidenz und Erkenntnis entstehen. Insbesondere wird die Stellung des Menschen als Subjekt von Er-kenntnis in einem bisher nicht gekannten Maßstab relativiert.

Zum anderen den Medialisierungsprozessen, die oftmals gebündelt unter dem Stichwort Social Media verhandelt werden und die die Formen medialer Wirklichkeitskonstruktion verändern. Obgleich man mit Luhmann argumentieren kann, dass wir ohnehin Wissen nur über die Massenmedien wüssten, so erscheint mit der rezenten Medialisierungswelle eine neue Qualität Einzug zu halten, die sich am Wegfallen von Gatekeepern, der Unmittelbarkeit von Ereignis und Bericht, praktisch instantanen Beachtungsmessungen sowie mehr oder weniger skalen-freien Vernetzungen von Inhalten festmachen lässt. Das wirkt sich nicht nur in der politischen Kommunikation aus, die stärker polarisiert wird und zugleich ihre Formen verändert, sondern ebenso in der Wissenschaft, etwa mit dem Einzug von Altmetrics-Verfahren.

Diese Entwicklungen mag man beklagen oder begrüßen, auffällig ist zunächst einmal, dass als Reaktion auf die aus der Transformation des Faktischen erwachsenden Folgen und Nebenfolgen experimentelle Verfahren als Mittel der Wahl der weiteren Wirklichkeitserschließung angesehen werden. Dies scheint wiederum in Resonanz mit einer grundlegenden Verschiebung gesellschaftlicher Handlungskoordination zu stehen, welche durch die wachsende Be-deutung experimenteller Praktiken im Allgemeinen gekennzeichnet ist.

Auch die Wissenschafts-und Technikforschung selbst bleibt jedenfalls nicht unberührt von diesen Bewegungen rund um das Experimentieren mit neuen Repertoires zur Herstellung der Wirklichkeit. Während innerhalb der verschiendenen beteiligten Disziplinen eine Reihe an Initiativen beobachtet werden können, die zum Experimentieren ermutigen, gibt es auch Forderungen zum Rückbezug auf die Re-installation des Vertrauens in wissenschaftliche Expertise mit ihren eingeübten Methoden der Herstellung von Faktizität.

Vor diesem Hintergrund widmet sich die diesjährige Tagung der GWTF dem Problem, welche Formen der experimentellen Konstruktion von Wirklichkeit sich mit Blick auf die genannten Verschiebungen des Faktischen zeigen und welche Treiber für deren Form und Dynamik beobachtet werden können.

Die Beiträge für die Tagung können folgende Fragekomplexe adressieren:

  1. Welche Bedeutung kommt dem X-Faktischen in Wissenschaft und Politik zu? Die Aus-weitung ‚epistemischer Kampfzonen‘ steht in engem Zusammenhang mit der hohen Relevanz von (wissenschaftlichem) Wissen für politisches Entscheiden. Und mit der Zunahme von Praktiken des Vergleichs oder der „Governance by indicators“ (man denke nur an die so genannten Sustainable Development Goals, SDGs) zeigt sich die Ambivalenz solcher Praktiken. Denn hier werden Fragen der Verknüpfung von Wissenschaft mit Politik, Macht, Demokratie virulent und es stellt sich die konkrete Frage, wie politische Macht epistemisch konstituiert wird.
  2. Welche Felder der experimentellen Konstruktion von Wirklichkeit sind besonders aktiv bzw. in ihrer Eigenlogik in besonderer Weise wirklichkeitsgestaltend? Wir haben schon einzelne Felder genannt, aber diese Liste ist keinesfalls abschließend. Vielmehr vollziehen sich in unterschiedlichen Sphären Entwicklungen, welche zur Veränderung des Fak-tischen beitragen, man denke nur an die Maker-Bewegung oder die Bedeutung künstlerischer Aktivitäten bzw. des Designs.
  3. Welche wissenschaftsforscherischen Herausforderungen sind damit verbunden? Ein Stichwort stellt hierbei die These von Steven Shapin „Science of subjectivity“ dar. Denn STS hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Objektivität gemacht wird, aber weniger, wie Subjektivität gemacht wird. Dabei kommt gerade diesem Umstand in der Gegenwart eine größere Bedeutung zu.
  4. Welche experimentellen Verfahren der Herstellung des Faktischen lassen sich mit Blick auf Big Data und Social Media finden? Inwieweit wird dort reflektiert, dass die Wirklichkeit der sozialen Medien in Echtzeit manipuliert werden kann? Welche neuen Konstellationen aus Mensch und Maschine liegen den diesen Evidenzpraktiken zu Grunde?
  5. Washält die gegenwärtige Bewegung hin zum Experimentieren(zum Beispiel an der Schnittstelle Kunst und Wissenschaft) und die Erweiterung des methodischen Repertoires in Richtung experimenteller‚ post-qualitativer‘ und ‚post-quantitativer‘ Methoden für die Wissenschafts- und Technikforschungselbstbereit? Entstehen neue Forschungsfragen und -theorien und -felder? Welchen Beitrag kann die Wissenschafts- und Technik-forschung (zum Beispiel zur Theatralität, Situativität oder Medialisierung von Wirklichkeitskonstruktion) in den aktuellen Entwicklungen leisten?
  6. Wie kann sich die Wissenschafts- und Technikforschung zwischen einem naiv positivistischen Bild von ‚harten‘ und ‚nackten‘ Fakten auf der einen Seite und rein politisch und ökonomisch motivierter Manipulation von Wirklichkeit auf der anderen Seite, zwischen reinen Daten auf der einen Seite und wertgeladenen Theorien auf der anderen positionieren? Wie werden dadurch die Disziplinen und ihre Grenzen herausgefordert? Soll der Wissenschafts- und Technikforschung an einem Erhalt der etablierten Wege der Wissenskonstruktion gelegen sein?

Ziel der Tagung ist es, die verschiedenen Rollen der Wissenschafts- und Technikforschung in Bezug auf die experimentelle Konstruktion von Wirklichkeit zu diskutieren und alte und neue Ansatzpunkte für eine wissenschafts- und technikreflexive Positionierung herauszuarbeiten.

Beitragsvorschläge (ca. 300 Worte, deutsch/englisch) werden erbeten biszum3. Juli 2020an: tagung@gwtf.de.

 In Abhängigkeit von den im November 2020 notwendigen Schutz- und Distanzmaßnahmen wird die diesjährige GWTF Tagung in einem mehr oder weniger hybriden Format stattfinden. Als Organisator:innen freuen wir uns daher auch dafür auf Anregungen und gute Ideen.

Während eine Präsenzteils der Tagung können Kinder von Referent:innen betreut werden. Die Betreuungskosten übernimmt die GWTF.

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