Das partizipierende Dorf. Ländliche Alltagswelten in Zeiten des Neuen Ländlichen Paradigmas

Tagung der dgv-Kommission Kulturanalyse des Ländlichen 8.–10. Oktober 2020, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Organisation: Ove Sutter, Oliver Müller, Sina Wohlgemuth

Zusammenfassung

  • Was Call For PapersDas partizipierende Dorf. Ländliche Alltagswelten in Zeiten des Neuen Ländlichen Paradigmas
  • Wann to (Europe/Berlin / UTC100)
  • Wo Bonn Deutschland
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Beschreibung

Ländliche Regionen in Europa und ihre alltäglichen Lebenswelten unterliegen einem umfassenden sozioökonomischen und kulturellen Wandel – entgegen ihrer nach wie vor dominierenden medialen Repräsentation als entschleunigte und von Traditionen geprägte Umwelten. Vor dem Hintergrund zunehmender Urbanisierung, Deindustrialisierung und ökologischer Krisen stehen sie unter Druck, sich neu zu erfinden.
Staatliche und supranationale Institutionen begleiten und forcieren diesen Wandel durch politische und ökonomische Maßnahmen. Im Sinne eines „Neuen Ländlichen Paradigmas“ setzen sie spätestens seit den 1990er Jahren auf Wettbewerb statt wohlfahrtsstaatlichen Ausgleich, auf eine Diversifizierung ländlicher Ökonomien und die Aktivierung sogenannter "endogener Ressourcen" statt flächendeckender Subventionierung.
Charakteristisch ist dabei die Regierungsform "partizipativer Governance" und damit verbunden eine Pluralisierung der Akteure, die in das Regieren ländlicher Regionen und Gemeinden eingebunden werden. Neben den Bürgermeister und den Gemeinderat treten nun neue Figuren, so z.B. die Regionalmanagerin, der Dorfvorsteher, die Dorfkümmerin und nicht zuletzt die aktivierten Dorfbewohner*innen. Letztere werden als verantwortliche Bürger*innen aufgefordert, sich aktiv in die zukünftige Entwicklung und Gestaltung ihrer Region einzubringen. Ohne partizipativ entwickelte Dorfentwicklungskonzepte, die eine Zukunftsvision formulieren, öffnet sich heute nur noch schwerlich ein öffentlicher Fördertopf. In den dörflichen Festhallen und Gemeindezentren analysieren Bewohner*innen nun, moderiert durch Regionalmanager*innen, ihre eigenen "Stärken" und "Schwächen" und definieren ihre "Entwicklungspotenziale". Dabei werden historisch gewordene Imaginationen des Dorfes als traditionsbewusste und nachbarschaftlich sorgende Gemeinschaft mit gegenwärtigen Formen einer neoliberalen Governance verwoben. Aus dem dörflichen Ehrenamt, aber auch aus historischen Gebäuden oder "natürlich" anmutenden Landschaften werden "endogene Ressourcen" der zukünftigen Entwicklung, mit denen das Dorf seine ökonomischen, ökologischen und demografischen Probleme überwinden soll. Gleichzeitig treffen in den lokalen Arenen partizipativer Governance tradierte politische Akteure und Netzwerke des Dorfes auf zugezogene Counterurbanisierer*innen oder auch zugewiesene Geflüchtete mit unterschiedlichen und teils konkurrierenden Vorstellungen vom "guten Leben" (auf dem Land). Tradierte Formen des Vereinslebens, des Ehrenamts und der politischen Aushandlung treffen auf partizipative Formate der Vernetzung und projektförmigen Beteiligung.
In diese Veränderungen wirken auch mediale und politische Diskurse hinein: von idyllischen Repräsentationen des ländlichen Familienlebens und ländlicher "Heimat" in Hochglanzmagazinen über Zukunftsvisionen vom rurbanen "co-working village" bis hin zum autoritär-rechtspopulistischen Narrativ von der kulturellen und politischen Spaltung zwischen den bodenverbundenen und einfachen Landbewohner*innen auf der einen und den kosmopolitischen und realitätsfernen urbanen Eliten auf der anderen Seite.
Um diese gegenwärtigen soziokulturellen Transformations- und Aushandlungsprozesse umfassend zu verstehen, müssen sie auch in Beziehung zu historisch gewordenen Vorstellungen von Zuständigkeit und Zugehörigkeit, Praktiken des Selber-Machens und Machen-Lassens sowie Strukturen der politischen Aushandlung und Arbeit am lokalen Gemeinwesen gesetzt werden. Ebenso sind die politischen und ökonomischen Mobilisierungen und manchmal konflikthaften Formierungen von Erinnerung und Gedächtnis zur Produktion einer unterscheidbaren lokalen Identität und zur Herstellung von "Gemeinschaft" in den Blick zu nehmen.

Die Tagung diskutiert diese umfassenden Transformationsprozesse in ländlichen Regionen mit Fokus auf die alltagsrelevanten Repräsentationen, Praktiken und Materialitäten der Lebenswelten ländlicher Regionen und ihrer Bewohner*innen in historischer und gegenwärtiger Perspektive.

  • Welche historischen Prozesse der Transformation von Arbeit am und für das Gemeinwesen in ländlichen Regionen gehen den heutigen Formationen voraus und wie sind sie zu verstehen?
  • Welche historischen Repräsentationen, Praktiken und auch Arenen der Beziehung zwischen staatlichen Vertreter*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen werden im Zuge dieser Restrukturierungen in welcher Weise adaptiert und transformiert?
  • Welche neuen Akteur*innen der partizipativen Governance lassen sich identifizieren? Was sind ihre soziokulturellen Praktiken? Welche Beziehungen und Netzwerke zu anderen Akteur*innen enstehen in welcher Weise?
  • In welcher Weise formieren sich die alltagsweltlichen "Arenen" der Aushandlung der Transformation ländlicher Regionen als symbolisch-diskursiv und materiell geprägte Räume? Was sind ihre historischen Vorläufer?
  • In welcher Weise werden Erinnerung und Gedächtnis zur Produktion von lokaler Gemeinschaft und Identität mobilisiert und produziert?
  • In welcher Weise werden welche sozialen Gruppen und Akteure im Zuge partizipativer Governance ausgeschlossen? Welche Praktiken der Aushandlung und Produktion des Sozialen werden abgewertet?
  • Wie werden Mensch-Umweltbeziehungen im Zuge ländlicher partizipativer Governance bearbeitet und wie verändern sie sich?
  • Welche (politischen) Narrative und medialen Repräsentationen sind in welcher Weise in die Produktion der Unterscheidung von "Stadt" und "Land" als soziokulturelle und politische Imaginationen involviert? Welche neuen räumlichen Konfigurationen entstehen?

Wir freuen uns über Beiträge aus der Empirischen Kulturwissenschaft und Europäischen Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Medienwissenschaft oder auch Humangeografie, die diese und weitere Fragen der Transformation alltäglicher Lebenswelten in ländlichen Regionen aufgreifen.

Die zweisprachige Tagung (Englisch/Deutsch) bildet den Abschluss des DFG-Forschungsprojekts "Partizipative Entwicklung ländlicher Regionen. Alltagskulturelle Aushandlungen des EU-Entwicklungsprogramms LEADER" (LEADER-Forschungsprojekt.uni-bonn.de).

Bitte schicken Sie uns ihren Vorschlag in englischer oder deutscher Sprache (inklusive Name, E-Mail, Beitragstitel und Abstract mit max. 300 Wörtern) bis zum 29. Februar 2020 an o.mueller@uni-bonn.de.

Rückantwort: 15. März 2020

Eine Peer-Review-Publikation der Beiträge in Englisch wird angestrebt.
Vorbehaltlich der Zusage wird eine Erstattung der Reise- und Unterbringungskosten angestrebt.

Kontakt

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Oliver Müller

o.mueller[ at ]uni-bonn.de