Abschied vom Kanon – Detmold, September 1969: Ein internationaler Rückblick auf die Deutsche Volkskunde in der Diskussion

1968, 69, 70: Diese Jahreszahlen stehen nicht nur symbolisch für Prozesse der gesellschaftlichen Liberalisierung und des kulturellen Wandels, sondern markieren auch in der Geschichte volkskundlicher Kulturwissenschaft Revolte und Reform.

Zusammenfassung

Beschreibung

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die frühe Fachhistoriographie der deutschen Volkskunde um eine Stabilisierung der Disziplin bemüht durch die Behauptung  einer Trennung einer integren wissenschaftlichen Volkskunde und einer ideologisierten und politisch belasteten „Volkstumsforschung“. In der bundesweit beachteten Vorlesungsreihe „Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus“ (Universität Tübingen, 1965), die eine studentische Initiative eingefordert hatte, brach Hermann Bausinger mit dieser Illusion: Er benannte die aktive und engagierte Beteiligung des Faches an der NS-Ideologie. Nach erster studentischer Kritik auf dem Würzburger Kongress 1967 eskalierte die Debatte auf der Detmolder Arbeitstagung, zu der sich die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (dgv) vom 22. bis 27. September 1969 versammelt hatte. Der dgv-Vorsitzende Gerhard Heilfurth wollte wegen „der Turbulenz und Dynamik unserer Zeit“ die Veranstaltung als „ein streng sachorientiertes Forum“ verstehen. Dies durchkreuzte eine studentische Gruppe. In seinem Flugblatt schlug das „Tübinger Kollektiv“ unter dem Titel „durchgesehener und erweiterter Führer durch das Programm“ vor, die gesamte Tagung durch die Vorführung eines einzigen Films zu ersetzen, dessen Titel den Fachkanon ironisierte: „Wie der Sänger Markus Schäffer das Märchen vom Gildefest in Krempe der Bauernfamilie des Fürchtenicht Grünhösler beim Schnitzen einer Teufelsmaske zum Abendessen erzählt.“ Die Diskussionen führten zu einem Bruch, die Tagungsbeiträge erschienen – anders als sonst – nicht in einem gemeinsamen Band. Das Konzept ‚Volkskultur‘ (mit seinem expliziten oder versteckten Nationalismus und völkischen Rassismus) hatte seine epistemische Kraft verloren. Die Anstrengungen, wieder eine gemeinsame Basis zu entwickeln, mündeten 1970 in eine fünftägige Arbeitstagung in Falkenstein. Die Falkensteiner Protokolle, 1971 von Wolfgang Brückner herausgegeben, dokumentieren weniger eine neue, verbindende Episteme dieser deutschen Variante einer cultural anthropology, sondern eher eine anhaltende Aporie, die sich bis heute zeigt, nicht zuletzt in der unlösbaren Namensfrage des Fachs.
Anders als auch die sogenannten Reformer dachten und hofften, kam es auch nicht zu einer kritisch entwickelten Kontinuität von „Volkskunde“: Nach der ersten, mittlerweile klassischen Analyse der volkskundlichen „Volkstumsideologie“ (Wolfgang Emmerich, 1968/71) belegten wissenschaftsgeschichtliche Forschungen auf breiter Quellenbasis, inwiefern Institutionen und Protagonisten (und Protagonistinnen) des Fachs im 20. Jahrhundert zu faschistischer und evolutionistischer Politik beigetragen hatten, einschließlich der nur geringfügigen Modifikation von Paradigmen der „Ostforschung“ an manchen westdeutschen Universitätsinstituten im Gefüge des Kalten Kriegs. Zugleich haben neue historische Perspektiven, beginnend 1999 mit einem vielbeachteten Aufsatz von Bernd Jürgen Warnken in der Zeitschrift für Volkskunde, die nationalistische Verengung des Fachs, die Marginalisierung vergleichender Herangehensweisen und den Verlust universalistischer Orientierungen zeitlich genauer lokalisieren können, nämlich um den Ersten Weltkrieg. Dieser Verlust universalistisch-vergleichender Perspektiven war eng verbunden mit der Marginalisierung der internationalen Fachdiskussion im Allgemeinen und den Beiträgen jüdischer Gelehrter im Besonderen.
Eher unbeabsichtigt haben gerade die Reformorientierungen im Fach den Horizont nationalisiert, etwa durch ihre Abwendung von der anthropologischen Diskussion hin zur Soziologie. Auch die kritische Befassung mit dem völkischen Engagement des Faches marginalisierte weitere (gleichwohl eurozentrische) Horizonte, etwa der Erzählforschung und der Forschungen zu materieller Kultur, die auf den Veranstaltungen der ISFNR, SIEF oder CIAP diskutiert wurden. Erst um 1990 wurde eine dezidiert internationale Perspektive institutionalisiert, als Ina-Maria Greverus, inspiriert durch die Writing-Culture-Debatte, feministische und kulturökologische Perspektiven, das Anthropological Yearbook of European Cultures gründete.

Nach 50 Jahren nimmt die Konferenz die Detmolder Unruhe zum Anlass für einen Rückblick auf den September 1969 und dessen Folgen und Resonanzen im Fach:

  • Wie national oder international war die damalige Debatte in der „Deutschen Volkskunde“? Auch wenn die Positionen rund um die „Kritik des Kanons“ (Martin Scharfe, 1970) meist ausschließlich auf deutsche Literatur referieren: gab es nicht auch internationale Horizonte, beispielsweise bei den studentischen Protestformen?
  • Wie schauten und schauen KollegInnen von anderswo auf jene bundesdeutsche Diskussion, damals und heute?
  • Gab es eine Erörterung des Problems, dass ‚Internationalisierung‘ auch eine Denkrichtung sein konnte, nationale und völkische Vergangenheiten zu umgehen?
  • Inwiefern war der Abschied vom Kanon mit Geschlechterordnungen des Fachs verbunden?
  • 1983 gründete sich die „Kommission für Frauenforschung“ in der dgv: Welche impliziten oder expliziten Resonanzen gab es zwischen der aufkommenden feministischen Wissenschaftskritik, den Anliegen der Frauenbewegung und den Fachreformen, die mit den Jahren 1968, 69, 70 verbunden sind?
  • Das Fach Volkskunde formierte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur an Universitäten, sondern vor allem in Museen und anderen Institutionen der öffentlichen Kulturarbeit wie den Landesstellen: Welche Relevanz hatten die Fachreformen in diesen Kontexten?

Das Konzept der Tagung bietet Raum und Zeit, die Inhalte und Bewegung der Veranstaltung vom September 1969 in Detmold zu vergegenwärtigen: am Ort des Geschehens selbst, im Austausch mit damals beteiligten KollegInnen, in Form eines Blicks auf nun zugängliche Archivbestände, und nicht zuletzt durch die Diskussion mit jüngeren KollegInnen und FachvertreterInnen aus anderen Ländern.
Die Tagung wird zweisprachig (Englisch/Deutsch) arbeiten; die anwesenden mehrsprachigen KollegInnen übersetzen bei Bedarf. Die Diskussionen sollen aufgezeichnet werden und – nach Abstimmung mit allen Beteiligten – im Tagungsband, der auch die Vorträge und weitere Beiträge zum Thema umfassen wird, dokumentiert.

Konzept: Hande Birkalan-Gedik (Frankfurt/Main), Friedemann Schmoll (Jena), and Elisabeth Timm (Münster) in Kooperation mit dem LWL-Freilichtmuseum – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur, Detmold (Jan Carstensen) und der Volkskundlichen Kommission der LWL, Münster (Christiane Cantauw).

Ort:
LWL-Freilichtmuseum Detmold – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur
Krummes Haus, Gartensaal
32760 Detmold
https://www.lwl.org/LWL/Kultur/LWL-Freilichtmuseum-Detmold/besuch/kontakt

Anmeldung bis 10. September unter volkskunde.institut@uni-muenster.de.
Die kleine Teilnahmegebühr (Kaffeepausen und Catering) ist am Museumseingang zu bezahlen (Donnerstag frei; Freitag und Samstag 20 EUR/Tag, Studierende 10 EUR/Tag).
Diese Hotels halten für Tagungsgäste ein Angebotskontingent bis 1. September 2019 bereit – TagungsteilnehmerInnen werden gebeten, dort direkt selbst zu buchen (Preise inkl. Frühstück):
Stadthotel Detmold (EZ 70,00€; DZ 98,00€): http://www.stadthotel-detmold.de/
H&S Residenzhotel Demold (EZ 85,00€): https://www.residenz-detmold.de/

Kontakt

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volkskunde.institut[ at ]uni-muenster.de

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